Sie war für Jahrzehnte das Aushängeschild für ein florierendes Musikbusiness: die Midem in Cannes. Ein Nachruf auf eine der schillerndsten und bedeutendsten internationalen Musikfachmessen.
von Marcel Kaufmann (FONDATION SUISA) und Erika Weibel (SUISA)
«Due to the lasting pandemic and following a review of its activity, RX France has decided to no longer continue to organize the Midem event.»
(midem.com, Dezember 2021)
Die Midem – abgekürzt für: Marché International du Disque et de l’Edition Musicale – war für die bis Ende der 1990er-Jahre florierenden Musiklabels und -verlage die wichtigste Geschäftsplattform der Welt. Mit ihr verliert die Musikbranche eine ihrer traditionsreichsten Fachveranstaltungen. Seit 1967 fand die Messe jährlich im Palais des Festivals et des Congrès in Cannes direkt an der Côte d’Azur statt. Ein prestigeträchtiger Ort, der auch das renommierte Cannes Film Festival oder die NRJ Music Awards beherbergt. Aber auch ein Sinnbild dafür, was die Midem letztlich zu Fall brachte.
Seit 1989 organisierten die SUISA und die FONDATION SUISA mit Unterstützung der Stiftung Phonoproduzierende den Schweizer Gemeinschaftsstand an der Midem. Nach diesem langjährigen Förderengagement zugunsten der Vernetzung der Schweizer Musikbranche mit dem Ausland blicken wir heute zurück:
Am 30. Januar 1967 öffnete die Midem zum allerersten Mal ihre Pforten. Bernard Chevry, Veranstalter der ersten Midem-Ausgaben, hatte bewusst die prestigeträchtige Côte d’Azur als Kulisse für das weltweit allererste Musikbusiness-Treffen gewählt. Im Auditorium des Palais des Festivals wurden den Label- und Verlagsvertretern während der fünf Messetage unzählige Songs und Shows präsentiert. Über Rechte verhandelte man danach meist in einem der Pop-Up-Büros des Grand Hotel Martinez. Vier französische Radiostationen übertrugen den Event live und über 200 internationale Journalisten berichteten täglich über die Midem. Mehr als 1’000 Musikfachleute, vor allem aus Nordamerika und Europa, wohnten der Pilotausgabe bei. Deren Zahl sollte sich innerhalb eines Jahres verdoppeln, die Ausstellungsfläche verdreifachen.
Während auf Schweizer Seite v.a. die grösseren Labels anfangs noch etwas zögerten, waren verschiedene Verlagshäuser schon früh mit dabei.*
Chevry hatte einen Nerv getroffen und strafte jene böse Zungen Lügen, die behaupteten, die Midem sei bloss ein Versuch, die Buchungsraten der Hotels von Cannes in der flauen Wintersaison aufzubessern. Die Idee einer eigenen Messe für Musikproduzenten und -verlage war dem umtriebigen Geschäftsmann anlässlich einer ebenfalls von ihm geschaffenen Fachmesse für TV-Programme gekommen, im Gespräch mit Vertretern der Musikbranche. Das neue Angebot wurde ausgekostet, und wie: Bis heute berichten ältere Semester unter den ehemaligen Teilnehmenden mit einem Schmunzeln und einer Portion Wehmut von den rauschenden Partys in den Grand-Hotels auf der Croisette zu Cannes in den 1970ern bis 1990ern, an denen sich Major-Bosse, Stars und Sternchen gegenseitig die Klinke in die Hand gaben.
Entgegen Chevrys ursprünglichen Plänen blieb Cannes ständiger Austragungsort der Midem und wurde mehr und mehr zum Symbol des jährlichen Branchentreffs zu Beginn des Geschäftsjahres. Bis in die späten Nullerjahre hinein wuchs die Midem noch bis an die 10’000 Fachteilnehmende aus über 90 Ländern weiter.
Mit dem neuen Jahrtausend wurde das Internet immer dominanter und stellte das Musikgeschäft grundlegend auf den Kopf. Physische Tonträger verloren an Bedeutung. Stattdessen traten Tech-Firmen auf den Plan und entwickelten nie dagewesene Möglichkeiten der Musiknutzung. Doch jene Klientel wollte nicht mehr so richtig in die noble Umgebung und das herkömmliche Messe-Format des Palais passen. «Piraterie!» als Kampfruf der gebeutelten Musikindustrie wurde bald abgelöst durch «Gratis-Kultur!» und «Value Gap!». Musikschaffende wandten sich mehr und mehr der Live-Branche zu, wo es noch Geld zu verdienen gab. Die Konkurrenz reagierte darauf in Form von zahllosen Showcase-Festivals über ganz Europa verteilt – die Midem dagegen blieb die Midem.
Innerhalb weniger Jahre hatte sich eine ganze Branche verändert. Vielen ging das zu schnell. Mit den sinkenden Einnahmen überlegten es sich viele zweimal, ob sich eine Midem-Akkreditierung mit den lokalen Hotelpreisen noch lohnte. Die Zahl der Ausstellenden sank kontinuierlich.
2015 wagten die Verantwortlichen die Flucht nach vorne: Dank der Verschiebung vom Januar in den Juni und den sommerlichen Temperaturen an der Côte d’Azur konnte der Sinkflug der Teilnehmerzahlen der letzten Jahre tatsächlich gebremst werden. Gleichzeitig begünstigte dies aber das Phänomen des Trittbrettfahrens: Immer mehr Leute verzichteten darauf, eine professionelle Akkreditierung zu kaufen und bestellten ihre Geschäftspartner:innen stattdessen per Handy in die Cafés und Bars der Strandpromenade oder organisierten Partys in gemieteten Häusern und Wohnungen. Der Exodus aus den Messehallen hielt an.
Zwar haben die Midem-Verantwortlichen seit 2017 den Live-Sektor stärker eingebunden. Unter dem ehemaligen Universal France-Manager Alexandre Deniot wurden originelle und publikumswirksame Strandbühnen errichtet. Anbieter neuer Technologien wurden umworben, Konferenzthemen angepasst und attraktive Formate für Start-ups und Midem-Neulinge geschaffen. Im ersten Corona-Jahr 2020 präsentierte die Midem ausserdem die damals attraktivste Digital-Lösung als Alternative für das jährliche Treffen. All dies konnte jedoch das endgültige Aus der Messe nicht mehr aufhalten. Für die letzte physische Ausgabe von 2019 registrierten sich noch gut halb so viele Personen wie zehn Jahre zuvor.
Und so müssen sich die Verantwortlichen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die Zeichen der Zeit zu spät erkannt zu haben. Die Midem stolperte letztlich über ihr nicht mehr zeitgemässes Format und ihren Veranstaltungsort. Eine herkömmliche Messe, gepaart mit dem teuren Pflaster am Mittelmeer: Beides passte nicht mehr zu den Vorstellungen und finanziellen Möglichkeiten der heutigen Kundschaft. Der Festivalpalast und die prunkvollen Hotels wurden mehr und mehr zu nostalgischen Referenzen an eine längst vergangene Zeit.
Was bleibt, sind unzählige Begegnungen – ab 1989 auch am Schweizer Gemeinschaftsstand – die an und dank der Midem entstanden sind und die zahlreiche Musikkarrieren nachhaltig geprägt haben. Der Schweizer Musikverleger Albert Brunner (Helbling & Co.) brachte es schon 1968 auf den Punkt: «Ein einziger persönlicher Kontakt ist mehr wert als 100 Briefe.»
Midem-Gründer Bernard Chevry erlebte das Aus der Messe nicht mehr. Er verstarb 2019 kurz vor der letzten physischen Ausgabe.
Midem, Grande Dame des Musikbusiness, du hast vor deiner glamourösen Kulisse jahrzehntelang gekonnt Leute zusammengeführt und zahlreiche Träume wahr werden lassen. Danke. Du wirst uns fehlen.
*Akkreditierte Schweizer Firmen, Midem 1968:
• Editions Chappell S.A.
• Editions COA
• Goodman Music S.A.t
• Edition Helbling
• International Melodizs
• Editions Melodie
• Mondiamusic S.A.R.L.
• Muzik Center Zurich
• Musikvertrieb AG
• Phonag Schallplatten AG
• R.C.A. Overseas S.A.
• Editions Sidem S.A.
• Southern Music AG
• Star Record
• Swiss Record Editions Televox
Ref: Billboard 20. Januar 1968 »