Jetzt, da der vorerst erste Lockdown vorbei scheint, sich Menschen gegenseitig wieder umarmen und küssen dürfen, in Hundertschaften Party feiern oder im Zug im Sinne einer regierungskritischen Einstellung aufs Maske tragen verzichten wollen, komme ich einfach nicht umhin, das menschliche Verhalten in diesen ausserordentlichen Zeiten zum Intelligenztest zu erklären. Verstehen Sie mich nicht falsch: Dies hat nichts mit dem individuellen Bildungsgrad einer Person zu tun, sondern – meiner Meinung nach – mit dem gelebten Verständnis, dass wir als Demokraten, die wir sind, in einer Solidargemeinschaft leben. Solidarität ist ein Modell, das nur in zwei Richtungen funktionieren kann.
Auch in meinem weiteren beruflichen Umfeld ist zu beobachten, dass nicht alle die Zeit des Lockdowns nutzten, um die Haltung gegenüber der Gegenwart und der Zukunft neu zu justieren. Wir sitzen nicht in einem Wartesaal, in dem wir bloss darauf warten können, bis uns die Durchsage von diesem elenden Zustand erlöst und uns erfreut mitteilt, es gehe nun wieder weiter. Und zwar genau so, wie wir dies früher getan haben.
Meine Erkenntnis, die ich aus den letzten sechs Monate gewonnen habe: Es wird nie mehr so sein wie früher. Die Ausnahme ist das neue Normal – ob wir wollen oder nicht. Erst wenn wir alle bereit sind, gemeinsam alles Dagewesene einer Prüfung zu unterziehen und spezifische Punkte von Grund auf neu zu definieren, dann wird die Zeit, die kommt, eine Gute sein. Gewiss wird sie nichts für Nostalgiker sein, aber in vieler Hinsicht vernünftiger, konkreter und ja, in vielen Punkten auch qualitativ besser. Es versteht sich von selbst, dass wir hier und jetzt nicht alle mit dem selben Mindset ausgestattet sind. Deshalb ist es zwingend, dass wir nach der Schnittfläche suchen, auf der wir uns treffen können, um frei von Ideologie und subjektiver Wahrnehmung, nach Lösungen und Visionen zu suchen, die uns krisensichere Wege eröffnen.
Als Direktor der FONDATION SUISA verwalte ich Stiftungsgelder, also Geld, das mir nicht gehört. Und dies will sinnvoll und wirksam eingesetzt sein. Damit dies geschieht, tausche ich mich aus mit anderen Protagonistinnen der Schweizer Kulturlandschaft. Uns ist gemeinsam, dass wir dort neu denken, wo viele heute mit ihren Gedanken gar nicht hin wollen. Es ist das Recht eines jeden auf dem Bundesplatz zu demonstrieren, damit die gegenwärtige Finanzlast durch die Politik und die Öffentliche Hand – also durch uns alle – abgefedert wird. Aber niemand sollte dabei auf den Gedanken kommen, dass sein jahrelang erfolgreiches Geschäftsmodell auch in Zukunft ein Erfolgreiches sein wird.
Die Zeit, als sich Hunderte oder gar Tausende von Menschen an einem einzigen Ort zur selben Zeit einfinden, um an einem Happening teilzunehmen ist vorbei. (Gross-)Anlässe müssen sich über eine mögliche Dezentralisierung – sowohl geographisch wie zeitlich – ernsthafte Gedanken machen. Wie sehen Konzerte in Zukunft aus? Und: Kommen überhaupt noch genügend Menschen? Was, wenn nicht?
In meinem alltäglichen Verhalten oute ich mich hier als Streber des oben genannten Intelligenztestes. Soviel Selbstbewusstsein muss sein. Aber der zweite Test, den wir alle als Teil der Kulturlandschaft Schweiz absolvieren müssten, ist noch in vollem Gang. Durch diese Prüfung kommen wir nur gemeinsam. Dabei ist Sitzenbleiben allerdings keine Option. Da müssen alle aus dem Wartesaal raus und mitten in den Brainstorm hinein. Dann wird es auch ein Morgen geben, das den Vergleich zum Gestern nicht zu scheuen braucht.