Zwiegespräch mit Graziella Contratto
Mit Veröffentlichungen auf ihrem Label Schweizer Fonogramm sorgt Graziella Contratto national und international regelmässig für Aufsehen – jüngst geschehen mit den Aufnahmen der wiederentdeckten Sinfonien von Joseph Lauber. Jedoch: (zu) oft fällt eine Unterstützung von Projekten zur Musik aus dem 19. Jahrhundert bei den Förderinstitutionen zwischen Stuhl und Bank. Das folgende Zwiegespräch ist ein erster Versuch, die Vergangenheit an die Gegenwart anzudocken, um in der Folge eine förderbare Vermittlungsform zu skizzieren.
Urs Schnell: Graziella, Freunden der klassischen Musik muss man Dich nicht näher vorstellen. Du arbeitest erfolgreich als Dirigentin, Orchesterleiterin und Kulturvermittlerin im In- und Ausland – und als Chefin des Labels Schweizer Fonogramm sorgst Du auch für grosses Aufsehen mit Referenz-Aufnahmen zuvor unbekannter Kompositionen wie den Sinfonien von Joseph Lauber oder Orchesterwerken von Hans Huber, die vom Sinfonie Orchester Biel Solothurn unter den Leitungen von Kaspar Zehnder und Yannis Pouspourikas eingespielt wurden. Aktuell bereitet Ihr die Weltersteinspielung von Joachim Raffs Oper SAMSON vor, eine Art Schweizer Pendant zu Wagners Lohengrin. Zahlreiche Nominationen im Ausland, darunter der Deutsche Schallplattenpreis, beweisen, dass neu entdeckte Musik des 19. Jahrhunderts auch in der Gegenwart auf Begeisterung stossen kann. Bloss: Bei der Finanzierung solcher Projekte stösst Du im Schweizer Förderwesen allerdings auf Widerstand.
Graziella Contratto: Ja, und dies, obwohl es sich dabei um alles andere als ein Spiel mit roten Zahlen handelt. Die Lauber-Sinfonien haben sich im In- und Ausland ausserordentlich gut verkauft. Ich musste bereits zweimal nachpressen lassen und auch das Boxset war ein Verkaufserfolg. In Frankreich, Deutschland und Grossbritannien wurde Lauber gefeiert und in der Schweiz realisierte Patricia Moreno bei SRF2 Kultur ein Special mit Dirigent Kaspar Zehnder. Und wenn dann noch jemand beim ORF sagt, es handle sich bei den Aufnahmen um eine musikhistorische europäische Sensation, dann hat dies natürlich Einfluss auf die Verkaufszahlen.
Dennoch: Die Kosten entstehen bei der Produktion und die werden durch die Verkäufe nicht gedeckt.
GC: Bemüht man sich für eine Förderung eines Projektes, in dem es um das 19. Jahrhundert geht, dann landet man mitten in einer argumentativen Schere. Auf der einen Seite wird klassische Musik kommunal und kantonal normalerweise mit viel höheren Etats unterstützt als andere Musik wie Jazz, Experimental oder Elektro. Dieses finanzielle Ungleichgewicht hat auch damit zu tun, dass Orchester hochkomplexe Institutionen sind mit teuren Instrumenten, Konzertsälen, Kosten für Notenmaterial, Gesamtarbeitsverträgen und so weiter und so fort. Die Liste ist lang. Kurz: Klassische Musik ist einfach teuer. Es kostet wesentlich weniger eine Popaufnahme zu machen, als etwa eine Oper einzuspielen, bei der man dann ganze zwei Wochen im Studio verbringt, mit manchmal bis zu 100 Mitwirkenden. Das sind rein quantitative Unterschiede, aber auch der ganze Aufnahmeprozess ist anders: er ist mit unzähligen optimierenden Takes mit allen Mitwirkenden zur selben Zeit verbunden, man kann nicht eine Klarinette mal kurz in ihrer Mansarde einspielen und die Cellogruppe via Klick dazudubben. Hier sind wir wieder beim Gesamtkunstwerk: Jedes Mitglied einer klassischen Gruppierung muss bei einer Aufnahme zur selben Zeit im selben Flow sein, man nähert sich gemeinsam mit einem Tonmeister und künstlerischen Aufnahmeleiter einem Ideal an. Und es soll wirklich was für die Ewigkeit sein, eine bestmögliche Version eines Werks, ob bekannt oder nicht, ob comfort oder contemporary.
Es existiert praktisch keine mir bekannte Stiftung, die Tonträgerproduktionen unterstützt, egal in welchem Genre. Vielleicht ein kurzer Einschub als Erklärung, weshalb die FONDATION SUISA Anfang der 1990er Jahre beschlossen hat, Produktionen von Tonträgern nicht mehr zu unterstützen. Die Erfahrung war damals – und ich sage bewusst «war», weil seitdem die Situation nie neu analysiert wurde – dass von 30 CDs, die gepresst wurden, 28 im Übungskeller verstaubten und zwei verschenkt wurden. Die Urheberinnen und Urheber kümmerten sich nicht um den Abnehmermarkt. Aber als Stiftung können wir nicht nur diese unterstützen, sondern müssen auch besorgt sein, wie die Musik letztlich an die Leute gelangt. Dank eines Publikums generieren sich Einnahmen für die Urheberinnen und Urheber und erst so schliesst sich der Kreis. Zurzeit arbeiten wir innerhalb der Stiftung an Möglichkeiten, den kategorischen Ausschluss von Tonträgerproduktionen etwas abzuschwächen.
GC: Das würde helfen, sind doch die Arbeiten im Vorfeld, die zwingend sind für eine Studioaufnahme, enorm hoch.
Genau. Deshalb könnten wir uns vorstellen, beim kreativen Prozess, der in der Folge zu einer Aufnahme führt, mit von der Partie zu sein. Dass also nicht nur mehr für die Bühne komponiert werden muss, sondern dass bewusstes Komponieren für die Studio-Umgebung miteingeschlossen wird. Ich persönlich schätze Deine Lauber- und Huber-Einspielungen sehr, aber als Stiftung stehen wir hier in einem Konflikt mit unseren eigenen Strategien. Man müsste aufzeigen können, dass es bei diesen Projekten um mehr geht als bloss um die Aufnahme von auf Papier existierender Musik. Worin liegt der Mehrwert für eine Stiftung, bei Projekten dieser Art mit einzusteigen? Unser Stiftungszweck verbietet uns ein Engagement und der Aufwand, diesen anzupassen, wäre enorm gross. Wie also können wir solche Projekte nachvollziehbar gestalten, damit von den Stiftungen dieser existierende Schatz abgeholt werden kann? Hier kommen die qualitativen Aspekte ins Spiel, die herausgearbeitet werden müssen. Man müsste einen Ansatz generieren, mit dem sich das Postulat breiter abstützen lässt, so dass man dann bei den entsprechenden Förderstellen vorstellig werden kann. Der Begriff «Tonträgerproduktion» unterschlägt im Fall Deiner Aufnahmen einen äusserst wichtigen Aspekt. Bei Lauber und Huber geht es um «Schätze heben». Die CD ist dabei nur Mittel zum Zweck, um den Schatz einerseits als Tondokument archivieren zu können und andererseits für das Publikum zugänglich zu machen. Es gilt dafür eine neue Form zu finden.
GC: Vielleicht müssten wir dies über den Aspekt des «Erinnerns» tun. Es existieren viele Komponistinnen und Komponisten aus dem 19. Jahrhundert in allen Landesteilen der Schweiz. Wir Schweizerinnen und Schweizer haben aber im Gegensatz zu unseren Nachbarn ein anderes Verhältnis zur Wertschätzung unserer eigenen Vergangenheit. Das hat etwas mit einer gewissen Spätentwicklung des überpersönlichen, kulturellen nationalen Bewusstseins in der Schweiz zu tun. Eigentlich wäre es sehr nobel, wenn man die Kreativität dieser Kunstschaffenden aus dem 19. Jahrhundert anhand einer Tonträger-Produktion aus der Vergangenheit holt, um sie für die Ewigkeit zu konservieren. Das ist ein wahrer Dienst am Kulturerbe der Schweizer Musik! Die zeitgenössische Klassik, so scheint mir, ist mittlerweile bei den Stiftungen angekommen, weil es da um die unmittelbare Kreation geht und nicht um die Erinnerung.
Und man konnte schon in der Vergangenheit sehen, dass sich über das «Erinnern» Dinge überraschend verändern können. Ich denke da etwa an die Volksmusik. Die wurde vor 15 Jahren zum Mainstream. Plötzlich wurde etwas, das die sogenannte Avantgarde stets verteufelt hatte, zu einem «Must». Die ganzen volkstümlichen Interpretinnen und Interpreten spielten sich in den Vordergrund und entwickelten sich weiter Richtung Jazz oder Pop. Ich weiss nicht, ob dies sich nur im Nachhinein analysieren lässt oder ob man sich da im Bereich der zeitgenössischen Musik etwas abschneiden könnte, damit etwas Ähnliches geschieht und diese Nische in ein Selbstverständnis mündet.
GC: Die Volksmusik ist ein gutes Beispiel. Ich habe die Geburtsstunde der Neuen Volksmusik eng mitverfolgen können, viele Vertreter*innen der ersten Stunde sind aus meiner Generation. Der Muotathaler Jutz war mir als Schwyzerin schon früh ein Begriff und mein Vater war ein grosser Liebhaber von Volksmusik. Was den Protagonistinnen und Protagonisten der Neuen Volksmusik sehr gut gelungen war: Sie haben die Volksmusik aus dieser etwas biederen, patriotischen Ecke herausgeholt. Die neue Generation betrieb Feldstudien, recherchierte und suchte urtümliches Material, notierte dieses und arrangierte es neu – ganz im Sinne eines Béla Bartók. Das Resultat ist eine Volksmusik auf einem sehr hohen, fast schon hochkulturellen Niveau. Dies geschah, indem man das Patriotische, Landesverteidigungs-mässige wegliess zugunsten von mehr Archaik und Naturbezug und für eine neue, frische Poetik. Der Film «Ur-Musig» von Cyrill Schläpfer dokumentiert dies sehr schön. Für die klassische Musik aus der helvetischen Romantik des 19. Jahrhunderts hat dies noch nicht stattgefunden. Warum weiss ich nicht, weil wir es hier mit einer unglaublichen Fundgrube zu tun haben. Die Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer nennt dies zurecht die Schatzkammer Schweiz. Da existieren noch unzählige Partituren, die in irgendwelchen Bibliotheken oder auf Dachböden unerkannt herumliegen. Mein guter Freund Kaspar Zehnder hat die sechs vollständigen Sinfonien des Neuenburgers Joseph Lauber so ans Tageslicht geholt – sie lagerten still in einem Archiv der Bibliothek der Lausanner Universität vor sich hin. Man müsste sich überlegen, wie es uns gelingen kann, das 19. Jahrhundert für die Schweizer Musik retrospektiv zu einem besonderen Momentum zu machen.
Wenn ich mit anderen Leuten über die Lauber-Aufnahmen spreche, herrscht da stets eine gewisse Ratlosigkeit. Die Einordnung mag für viele schwierig sein, auch weil in diesem Bereich – im Gegensatz zur Volksmusik – eine völlig andere Konkurrenz existiert. Eine romantische Komposition misst man automatisch mit einem der grossen «Bs» aus jener Zeit. Man begibt sich also mit solchen Aufnahmen in eine Marktsituation, in der das Angebot immer auch einem Interesse dafür gegenübersteht. Die Frage ist also, gibt es Steuermechanismen, mit denen man den Markt beeinflussen kann? Wenn man die Urheberinnen und Urheber respektive die Produzentinnen und Produzenten finanziell fördert, hat dies wiederum keinen Einfluss auf die Nachfrage des Publikums nach solchen Aufnahmen. Das ist ein Punkt, der mich als Direktor einer Förderstiftung sehr umtreibt. Und jetzt sind wir beim Thema, das ich gerne mit Dir diskutieren möchte. Als Finanzierungsstelle – wo setzen wir an? Worin liegt unser Auftrag? Liegt der einzig bei der Entstehung eines Werkes oder dessen Produktion oder sind wir auch für das Publikum verantwortlich? Sind wir verpflichtet den schweizerischen Abnehmermarkt auch zu berücksichtigen? Im Gegensatz zu hier, stossen die Aufnahmen von Lauber und Huber im europäischen Ausland auf grosse Begeisterung.
GC: Die professionellen Labels kümmern sich ja auch um das physische und digitale Marketing und stellen ihr Netzwerk zur Verfügung, damit die Aufnahmen via weltweiten Vertrieb, via Re-Sellers und natürlich auch durch ein dichtes internationales Networking mit Musikjournalisten und – journalistinnen von möglichst vielen Musikbegeisterten gehört werden. Trotzdem: In anderen europäischen Ländern erhalten aufnehmende Künstler*innen völlig selbstverständlich Support, auch und gerade für Kompositionen des eigenen Landes. Der Auftrag für Euch liegt meiner Meinung nach also in einer grundsätzlichen Änderung in der Haltung, damit Studioaufnahmen als eine künstlerisch wertvolle und nachhaltige Möglichkeit unterstützt werden, um das Musiknarrativ in unserem Land zum Fliegen zu bringen.
Kulturpolitisch lässt sich dies aus der Stiftungsperspektive heraus erklären. Als die FONDATION SUISA in den 1980er Jahren gegründet wurde, stand der genuine schöpferische Gedanke im Mittelpunkt. Es ist also kein Zufall, dass praktisch alle Stiftungen, die um jene Zeit herum gegründet wurden, ihre Stiftungszwecke entsprechend formuliert haben. Vermutlich kommen wir nicht darum herum, die Förderpolitik grundsätzlich zu hinterfragen. Vor allem auch, weil die Menge an neuen Werken, die heute erschaffen werden, vom Markt gar nicht absorbiert werden kann. Es bedürfte einer grundsätzlichen kulturpolitischen Diskussion, die sich allerdings nicht auf die Stiftungsebene beschränken sollte. Vielmehr müsste man in der Gesamtheit innehalten und reflektieren, wohin uns die Förderung der letzten dreissig Jahre gebracht hat und ob es Zeit wird, in irgendeiner Form Gegensteuer zu geben. Vielleicht sollte man aufhören, unentwegt nur nach vorne zu schauen, um sich auch auf die Wurzeln zu besinnen und so – dank der Hebung von Schätzen – zurückzublicken und sich so zu erinnern.
GC: Ein Lösungsansatz wäre, den Begriff des Kulturerbes auch auf die Musik anzuwenden. Es ist interessant, dass Musik in der Schweiz bislang nicht wirklich als Kulturerbe betrachtet wird – im Gegensatz zur Literatur, der Architektur und der Bildenden Kunst. Und wenn man ganz genau hinschaut, sind Labels, die sich für Schweizer Musik einsetzen, in einer absolut vergleichbaren Situation wie die Literaturverlagshäuser, die seit ein paar Jahren vom Bundesamt für Kultur eine strukturelle Förderung erhalten….
Interessanterweise wird die Ländler Musik, die oft ihren Ursprung gar nicht in der Schweiz hat, sehr wohl als musikalisches Erbe betrachtet. Durch ein geschicktes Storytelling müsste es möglich werden, dass Werke wie jene von Lauber und Huber auch Platz darin finden.
GC: Eventuell könnte man im Rahmen des Schweizer Musikpreises eine neue Kategorie einbauen, die das musikalische Kulturerbe berücksichtigt. Angelo Garovi beginnt in seinem Buch «Musikgeschichte der Schweiz» mit einer römischen Wasserorgel in Avenches – auch in der Alten Schweizer Musik gibt es viel zu entdecken. Es gab auch viele Schweizer, die das Land verlassen haben, um an den europäischen Königshöfen zu komponieren. Du hast es vorhin «zurück zu den Wurzeln» genannt – ich würde sogar so weit gehen, dass wir mit einem anderen Forschungsblick und einem anderen Gehör an die Komponistinnen und Komponisten aus der Schweiz der letzten Jahrhunderte herangehen sollten. Diese feierten damals grosse Erfolge. Joachim Raff war zu seiner Zeit einer der meistgespielten Komponisten. Eine Statue von ihm steht in der Genfer Victoria Hall gleich neben jener von Brahms und anderen Grössen. Weshalb ging er nach seinem Tod vergessen wie so viele andere?
Die Vergessenheit ist nicht nur ein Schicksal, das Schweizer Komponierenden anheimfällt. Ich weiss nicht, wie viele Zeitgenossen es zu Mozarts Zeiten gab, die heute keiner mehr kennt. Aber was als Storytelling-Ansatz spannend sein könnte: Die Darstellung des «Schätze heben» als avantgardistischer Akt. In Tat und Wahrheit haben wir es mit sensationellen Funden zu tun, auf die Du gestossen bist. Dies gilt es treffend und nachvollziehbar zu formulieren. Im Falle von Lauber muss man nur dessen Musik hören und realisiert schnell, dass er sich gegenüber anderen berühmten Protagonisten des 19. Jahrhunderts nicht verstecken muss. So etwas darf man dann sehr wohl emotional aufgeladen verkaufen.
GC: Es mag einen langen Atem benötigen, dies umzusetzen, aber ich sehe in Deinen Ideen tatsächlich eine Möglichkeit, diese Emotion als strukturierendes leidenschaftliches Supportpotenzial zu fördern.
Vielleicht wird es in Zukunft auch in unserer Stiftung einen Gesinnungswechsel geben, verbunden mit der Einsicht, dass ohne die Cracks aus dem 19. Jahrhundert jene vom 21. Jahrhundert eventuell gar nicht existieren würden. Der Gegenwartsbezug mag fehlen, aber der Schweizer Bezug wäre weiterhin gegeben. Mittelfristig wäre es also denkbar, dass im Stiftungsrat ein Umdenken stattfinden könnte und so – einfach mal laut gedacht – ein Sonderfonds geschaffen würde, um dies anzustossen. Damit wäre das Prinzip der heiligen Dreifaltigkeit erreicht: Wir hätten das Geld, wir hätten ein Interesse und wir hätten jemanden, der das umsetzen kann.
GC: Wenn also im Triumvirat SUISA – FONDATION SUISA – Pro Helvetia oder zusätzlich mit der Fonoteca oder dem BAK definiert würde, dass ein Blick in die musikalische Vergangenheit der Schweiz in der Tat kulturell von hohem Wert ist und unterstützt werden muss, dann könnte dies für viele Privatstiftungen, die sich an den Grossen orientieren, Ansporn sein, mitzuziehen und das Ausschlusskriterium ‚Tonträgerproduktion‘ endlich zu streichen…
Genau. Nur – ich sage dies ganz offen – würde dieser Gedanke innerhalb unserer Stiftung 90 Grad quer in der Landschaft stehen. Ich müsste dafür sehr tief ins Selbstverständnis der Gründerinnen vordringen. Denn unsere Stiftung wurde von den Urheberinnen und Urheberinnen gegründet und mit einem musikalischen Horizont, der sich in erster Linie am Urheberecht bis 70 Jahre zurück orientiert. Das ist die Zeitachse, der wir folgen. Wenn wir von zeitgenössischer Musik reden, dann meinen wir nicht die zeitgenössische im Sinne von Contemporary, sondern zeitgenössisch auf eben diesem Zeithorizont. Sobald wir jetzt den Aufwand betreiben würden, uns auf der zeitlichen Ebene zusätzlich weiter in die Vergangenheit zu bewegen, würden wir nicht mehr nur an einem ästhetischen, musikalischen und historischen Thema arbeiten, sondern zwangsläufig auch am Stiftungszweck. Und diesen umzuschreiben ist etwa gleich schwierig, wie wenn man die Bibel umschreiben möchte. Das ist der Konflikt, in dem ich stecke, weil ich aus meinem historischen Verständnis heraus erkenne, dass Deine Initiativen und unser Verständnis von aktuellem Musikschaffen eigentlich zusammengehören. Aber dies aufzuzeigen und anschliessend umzusetzen in eine operative Handlung dieser Stiftung, ist eine Arbeit, die wir einzig von innen heraus nicht umsetzen können. Wie also können wir von Menschen wie Dir profitieren, um solche Dinge bei uns zu verinnerlichen?
GC: Ich weiss nicht, wie sehr die FONDATION SUISA das Thema Forschung auf dem Radar hat. Es wäre hilfreich, wenn die Forschung in den Bereichen Quellen/Edition, Interpretation und Historie ebenfalls in den Diskurs einsteigen könnte. Die Produktion eines Tonträgers wäre demnach der künstlerische Output, der auf dieser Forschung basiert und dadurch noch näher an die Entstehung einer Schweizer Komposition heranrückt.
Das Problem mit der Forschung ist, dass sie meist auf einer akademischen Ebene verharrt. Sie bleibt halt sehr kopflastig und damit schwer verkäuflich.
GC: Jene Forschung, die an die Fachhochschulen angedockt ist – und das ist in der Schweiz mit den Musikhochschulen der Fall – haben meiner Erfahrung nach einen ausgeprägten Praxisbezug. Aber ich weiss, was Du meinst, auch ich hatte mit der reinen Musikwissenschaft auch schon einige Begegnungen der besonderen Art. (lacht)
Von welcher Seite aus wir es auch betrachten: Wir kommen um ein Storytelling nicht herum. Wie können wir das Thema in eine Geschichte packen, die bei den Leuten ankommt? Nicht nur gegen aussen, sondern auch bei uns in der Stiftung. Wir müssen aufzeigen können, dass dieses Thema einen realen Zusammenhang hat mit dem, was wir Tag für Tag machen.
GC: Wenn man die retrospektive Wahrnehmung von Schweizer Musik stärken will, dann muss dies professionell geschehen und wissenschaftlich flankiert. Man müsste die kulturästhetischen und sozialen Einflüsse herausarbeiten – stets im Zusammenhang mit dem Klang, dem Sound. Das wäre eine intelligente und künstlerische Möglichkeit, das Schweizer Musikerbe endlich zu erkunden, hörbar zu machen und dabei noch zu analysieren, wo es Pionierarbeit gab und wo eher Trittbrettfahrer…
Aber nicht nur zum akademischen Nutzen, sondern auch zugunsten des Publikums. Die Menschen dürfen auch nur Freude an diesen Aufnahmen haben dürfen. Schliesslich geht es auch darum, Berührungsängste abzubauen. Auf jeden Fall sollten wir als Folge dieses Gesprächs ein Postulat formulieren, damit sich in der Folge die interessierten Kreise aus der Akademie, aber auch die Förderstellen und die Verbände über das musikalische Erbe ihre Gedanken machen können. Es geht dabei nicht darum, die Kulturförderung völlig neu definieren, aber eine Diskussion, um mögliche neue Vermittlungsformen zu lancieren. Als Stiftung befinden wir uns auch in einer Re-Orientierungsphase, in der man durchaus die Dynamik dieses Themas aufnehmen könnte. In diesem Zusammenhang die Frage an Dich, wie denn – kurzgefasst – Deine Botschaft lauten würde?
GC: Mein Wunsch oder meine Vision wäre, dass in der Schweiz ein neues Bewusstsein entstünde, das zur Einsicht führt, dass es ohne Herkunft keine Zukunft gibt. Es wäre wünschenswert, dass man – verbunden mit einer fundierten Forschungsperspektive – Schweizer Musik aus den vergangenen Jahrhunderten mit einem frischen Blick betrachtet. Und dass diese Musik – vor allem eben auch mit Hilfe hochqualitativer Dokumentation auf Tonträgern – in unser eigenes Kulturbewusstsein einfliesst. In diesem Zusammenhang kommt mir die Erzählung «Die Bibliothek von Babel» von Jorge Luis Borges in den Sinn. Es handelt sich um eine Spekulation über eine mögliche Welt, welche als eine Bibliothek aller möglichen Bücher dargestellt wird. Auf die Musik angewendet hiesse dies, dass alle Klänge archiviert wären und dadurch das Archivierte erst lebendig wird und so ein Klang entsteht, der von der Vergangenheit ins Heute hinein schwingt.
Dass ist nicht nur ein wunderschöner Gedanke zum Abschluss unseres Gesprächs, sondern auch eine Vision, die uns motivieren sollte, an der Sache dranzubleiben. Ich danke Dir, Graziella, für diesen substanziellen Austausch.
Zur Person:
Graziella Contratto ist ausgebildete Dirigentin und Dozentin für Musiktheorie. Nach vielen Jahren im Ausland, u.a. als Assistentin an der Berliner Philharmonie und als erste Frau, die ein französisches Nationalorchester leitete, übernahm sie mehrere Festivalintendanzen in der Schweiz. Zwischen 2010 und 2012 leitete sie den Fachbereich Musik an der Hochschule der Künste Bern. Sie war Stiftungsrätin u.a. bei Pro Helvetia und der Art Mentor Foundation und präsidierte die ersten beiden Jurys des Grand Prix Suisse de la Musique. 2017 gründete sie mit ihrem Mann Frédéric Angleraux das Klassiklabel Schweizer Fonogramm, das mit seinen Schweizer Neuentdeckungen bereits zahlreiche Nominationen und Auszeichnungen vorweisen darf.